Der Orkan im Gehörgang

Sigrun Saunderson | EXPLOREMAGAZINE 01/2014


Die Lautstärke kann Teil des Genusses sein. Vor allem bei Musik. Ab wann ist es aber zu laut für die Ohren? Und warum lässt sich das gar nicht so klar definieren?

85 Dezibel. Das ist der offizielle Richtwert, ab dem das Gehör bei länger andauerndem Lärm Schaden nehmen kann. Das ist ungefähr so laut wie eine Fräsmaschine, ein Rasenmäher oder eine stark befahrene Straße. Eine Unterhaltung ist daneben nur unter Anstrengung möglich. Wer in solch einer lauten Umgebung arbeitet - viele Bauarbeiter zum Beispiel - muss dem Gesetz nach mit Gehörschutz ausgestattet sein und bekommt arbeitsmedizinische Betreuung
110 bis 130 Dezibel hat es üblicherweise neben der Tanzfläche in einer Diskothek. Ein Rockkonzert kann Spitzen bis zu 135 Dezibel entwickeln. Und die Kopfhörer eines MP3-Players lassen sich immerhin auf 100 Dezibel hinaufdrehen. Dabei sollte man über die logarithmische Berechnung des Schallpegels Bescheid wissen: Erhöht sich der Schallpegel um nur 10 Dezibel, so bedeutet das eine Verdoppelung der wahrgenommenen Lautstärke. 95 Dezibel sind also doppelt so laut wie 85 Dezibel.
Wie geht es dann eigentlich den Ohren in einem 130-Dezibel-Rockkonzert?
Wie einer Blumenwiese im Orkan. Rund 25.000 winzige Härchen im Innenohr sind ständig damit beschäftigt, Schallinformationen an den Hörnerv abzugeben. Sie sind es, die unter Dauerbeschallung besonders leiden und auch Schaden nehmen können. Das geschieht meist nicht durch ein einziges Rockkonzert. Eine Stunde Höllenlärm kann über die Härchen zwar wie ein Orkan drüberfahren und sie wie Grashalme umknicken. Wenn sie danach jedoch lange genug Ruhe haben, richten sich die Sinneszellen wieder auf und das normale Gehör kehrt zurück. Ein Großteil zumindest.


Die Lärmdauer bringt den Schaden
Problematisch wird es, wenn solche „akustischen Orkane” lange dauern oder oft vorkommen, ohne dass sich das Gehör in Ruhepausen regenerieren könnte. Dabei sterben die Härchen im Innenohr ab, was zur sogenannten Schallempfindungsschwerhörigkeit führt. Wie schwerwiegend die Störung ist, hängt davon ab, wieviele Haarzellen beschädigt sind. Das Problem dabei: Die Schallempfindungsschwerhörigkeit kommt meist schleichend.
Aber nicht ohne Vorwarnung.
Druck in den Ohren und Ohrgeräusche wie Pfeifen, Rauschen oder Summen können auf eine Überlastung des Gehörs durch Lärm hinweisen. Bis zu einem gewissen Grad können sich die Ohren auch selbst schützen. Wird es zu laut, verschiebt sich die Hörschwelle einfach um bis zu 40 Dezibel nach oben. Ein vorübergehendes Taubheitsgefühl setzt ein. Es betrifft vor allem die hohen Töne, wie zum Beispiel das Ticken einer Uhr oder das Zirpen der Grillen, und ist ein deutliches Warnsignal: Jetzt ist Ruhe angesagt.
Eine harmlose Schwellenverschiebung dauert bis zu 16 Stunden, danach ist das normale Gehör wiederhergestellt. Klingt nach dieser Zeit immer noch alles wie durch Watte gedämpft, hat man sich bereits eine pathologische Schwellenverschiebung eingehandelt. Und ist diese „Hörermüdung” nach drei Monaten Ruhe noch immer nicht behoben, kann man davon ausgehen, dass sich Haarzellen im Innenohr aufgelöst haben. Die Schädigung ist irreversibel.
Von häufigem Musikgenuss ab einem Pegel von 85 Dezibel wird daher jeder Arzt abraten. Doch landläufige Prophezeiungen, dass wir durch Discothek und MP3-Player ein „Volk von Schwerhörigen” werden, seien überzogen, meint Birger Kollmeier, Professor für Medizinische Physik und Leiter des Exzellenzclusters „Hearing4all” an der Universität Oldenburg. „Natürlich kann laute Musik schädlich sein und jeder sollte vorsichtig mit seinen Ohren umgehen, denn Lärmschädigung ist nicht reparabel. Die Auswirkungen von Lärm sind aber individuell sehr unterschiedlich.”


Glasohren und Stahlohren
Prof. Kollmeier nennt sie „Glasohren” - jene Ohren, die schon bei einer regelmäßigen Beschallung mit 85 Dezibel nach wenigen Jahren mit Gehörverlust reagieren. „Stahlohren” hingegen vertragen auch 110 Dezibel über 20 Jahre hinweg ohne nennenswerte Hörminderung. Ein solch unempfindliches Gehör haben laut Schätzungen im Rahmen der ISO-Norm 1999 allerdings nur rund 15 Prozent der Bevölkerung. Der Großteil der Menschen liegt zwischen den beiden Extremen.
„Diese ISO-Richtwerte wurden für Lärmbelastung am Arbeitsplatz berechnet, wo sich niemand aussuchen kann, wie viel Lärm er sich aussetzen will,” so Kollmeier. Doch ließen sich diese Daten nicht auf den Freizeitbereich übertragen. Denn hier würden lärmempfindliche Menschen eine zu laute Umgebung ohnehin meiden. „Das ist wahrscheinlich die Erklärung dafür, dass seriöse Studien den Musikkonsum nicht als Hauptursache von Hörschäden bei Jugendlichen nachweisen können. Trotz MP3-Player und Diskotheken.”
Glasohren gehen wohl nicht zum Rockkonzert.
Anders ist die Lage bei Berufsmusikern. Und zwar nicht nur in Heavy Metal Bands. Auch Orchestermusiker sind während Proben und Aufführungen regelmäßig einem mittleren Lärmpegel von 85 bis 95 Dezibel ausgesetzt. Die Geige erzeugt direkt am Ohr der Violinistin einen Schallpegel von 90 Dezibel. Eindeutig ein Fall für Lärmschutzvorschriften am Arbeitsplatz.
„Alle Musiker tragen heute Gehörschutz, auch Discjockeys” weiß Patrick Zorowka, Professor für HNO-Heilkunde und Phoniatrie an der Universitätsklinik für Hör-, Stimm- und Sprachstörungen in Innsbruck.„Und trotzdem haben manche bereits nachweisbare Hörschäden. Vor allem jene Musiker, die vor Blechbläsern und Schlagzeug sitzen, sind hierbei besonders gefährdet.”
Wer sich in seiner Freizeit hohen Lautstärken aussetzt, muss selbst die Verantwortung für sein Gehör übernehmen. Ein Konzertbesuch pro Woche mit genug Ruhepausen für die Ohren dazwischen ist wahrscheinlich kein Grund zur Sorge. Wer aber zusätzlich täglich mehrere Stunden lang Musik über Kopfhörer hört, und zwar auf voller Lautstärke, der müsste schon Stahlohren haben, um keine Schäden davonzutragen. Und wer weiß das schon im Vorhinein?