Fünf Schwestern gegen die IRA

Sigrun Saunderson | EMMA 3/2005

Foto: Johnny Saunderson


„Was immer du sagst, sage nichts."–

Spätestens seit dem Höhepunkt der nordirischen „Troubles" in den Siebziger Jahren war das eiserne Schweigen der IRA-Mitglieder mit ein Grund für die Unschlagbarkeit der Bewegung.
Nicht einmal die brutalen Foltermethoden der britischen Armee, die sogar Amnesty International auf den Plan riefen, konnten einen IRA-Aktivisten zum sprechen bringen. Auch auf die Unterstützung der restlichen katholischen Bevölkerung konnten sich die IRA-Milizen seit Generationen verlassen. Die republikanische Bewegung in Nordirland hielt zusammen wie eine große Familie. Die einen jagten ganze Einkaufsstraßen in die Luft und die anderen hielten dicht. Die einen lauerten einem Armeetransporter auf und ballerten 18 britische Soldaten in Grund und Boden. Die anderen erhoben die Attentäter zu Freiheitskämpfern mit Anspruch auf Heiligenverehrung. Alles für ein „Freies Irland”.
Ja, da waren die IRA-Kumpels noch Helden.
Seit der Friedensprozess im Gang ist, haben die Helden nicht mehr viel zu tun. Und das, wo die Organisation gerade so gut läuft. Exzellent geplante Banküberfälle haben die Kassen gefüllt, Waffen, Munition und Sprengstoff sind zur Genüge da. Aber der Waffenstillstand, den Gerry und Martin ausgehandelt haben, muss eingehalten werden.
Was macht der kampfbereite, im Waffengebrauch trainierte IRA-Killer? Er geht mit seinen Kumpels ins Pub. Dort gibt’s was zu trinken und da kann es schon vorkommen, dass er sich mit einem Typen anlegt, der ihm sowieso schon länger nicht in den Kram passt. Und weil die IRA-Kumpels gerade so gut drauf sind und der Typ nur einen einzigen Freund dabei hat, da machen sie die jetzt fertig, dass sie nicht mehr aufstehen. Dass der Typ schon in Kapitulation beide Hände in der Höhe hat, macht es nur leichter, ihm die Innereien aufzuschlitzen.
Die zwei Männer liegen reglos in ihren Blutlachen an einer Straßenecke, die Kumpels gehen zurück ins Pub, um „aufzuräumen”. Das Überwachungsvideo muss verschwinden. Das Messer und blutige Kleidung ebenfalls. Alles Routine. Die anderen Gäste im Pub werden mit einem scharfen Blick daran erinnert, dass sie nichts gesehen haben. Ein Großteil der 72 Anwesenden wird der Polizei später erzählen, dass sie gerade auf der Toilette waren, als der Wirbel losging.
Der 33-jährige katholische Familienvater Robert McCartney stirbt an seinen Verletzungen, sein Freund kommt noch einmal davon. Die Polizei sucht nach Zeugen in der Umgebung. In der kleinen republikanischen Gettosiedlung in Belfast weiß inzwischen jeder, dass die IRA mit dem Mord zu tun hat. Aber jeder hier weiß auch, was es heißt, einen IRA-Angehörigen der Polizei auszuliefern. Ein Schuss ins Knie ist da noch eine nachsichtige Maßregelung. Viel eher gräbt man Jahre später deine Leiche irgendwo aus dem Sand.
Doch die stärkste Terrororganisation Westeuropas hat nicht mit den fünf Schwestern des Opfers gerechnet. Als sie hören, dass der Tatort „gesäubert” wurde und der Mord offensichtlich vertuscht werden soll, werden Paula, Donna, Gemma, Claire and Catherine zornig. So zornig, dass sie es sogar mit der IRA aufnehmen. „IRA oder nicht. Wir wollen Gerechtigkeit.”
Sie hängen Plakate in der Nachbarschaft auf, appellieren an die Leute, die doch irgendwas gesehen haben müssen. Mehr als 600 Leute aus der Nachbarschaft demonstrieren mit den Frauen für eine Aufklärung des Mordes. Innerhalb der erzrepublikanischen Gemeinschaft regt sich ein Aufstand gegen die einstigen Helden, die über die Jahre ganz unbemerkt zur mafiosen Ganovenbande mutierten. Zeit für die Kumpels, die Reihen zu schließen.
Phase 1 – Alles abstreiten. Ex-Bürgermeister Alex Maskey von der republikanischen Partei Sinn Fein dröhnt: „Die Polizei hat überreagiert und macht aus einer tragischen Schlägerei eine politische Affäre. Es hat keine Vertuschung durch die Republikaner gegeben. Das ist völliger Unsinn.”
Die fünf Schwestern werden zorniger. Sie widmen nun der Kampagne beinahe ihre gesamte Zeit. Gemma, die 41-jährige Krankenschwester, hat sich vorläufig beurlauben lassen. Paula, Mutter von fünf Kindern, vernachlässigt ihr Erwachsenenstudium der Frauenforschung. Catherine ist Lehrerin der Geschichte und Politikwissenschaft – sie lässt sich seit Wochen vertreten. Donna hat eine kleine Sandwich-Bar in Belfasts Stadtzentrum, die sie nicht einfach zusperren kann. Sie verkauft tagsüber belegte Brote und diskutiert abends mit den Schwestern die nächsten Schritte. Die Jüngste, Claire, ist 26 und Aushilfslehrerin. Wie ihre Schwestern wirkt auch sie vor Publikum souverän und redegewandt.
Die fünf treten vor die Kameras und sprechen laut aus, was insgeheim jeder weiß. Beschuldigen die IRA öffentlich, die Mörder zu schützen, indem sie mögliche Zeugen einschüchtern und bedrohen. „Wir bitten alle, die irgendetwas darüber wissen, mutig zu sein und den Mund aufzumachen. Bitte. Ihr müsst was sagen.”
Die Medienmaschine läuft. Paulas winziges Reihenhaus wird zur Zentrale der Kampagne und ist täglich von Journalisten belagert. Die Welt will wissen, wer es hier so couragiert mit der IRA aufnimmt. Politiker beginnen sich einzumischen und freuen sich über einen neuen Angriffspunkt gegen Sinn Fein – auch unter dem Namen „politischer Arm der IRA” bekannt. Die Partei wird verdächtigt, die Vertuschung des Mordes unterstützt zu haben. Die Kumpels von IRA und Sinn Fein sehen ihr Image der Freiheitskämpfer den Bach runter gehen.
Zeit für Phase 2 – Einlullen: Sinn Fein Präsident Gerry Adams stellt sich öffentlich auf die Seite der McCartneys und nennt den Mord ein „unentschuldbares Verbrechen”. Von nun an ruft er fast täglich die Schwestern an, versichert ihnen, dass er und seine Partei alles tun werden, um Roberts Mörder vor Gericht zu bringen. „Wir haben ihm zu dem Zeitpunkt wirklich vertraut,” erinnert sich Gemma.
Die Schwestern bekommen Besuch von einigen hochrangigen IRA-Männern. Gönnerhaft bieten sie ihre Hilfe in der Aufklärung des Mordes an. „Die haben einen Haufen hysterischer Weiber erwartet, stattdessen hatten sie es mit fünf intelligenten Frauen zu tun, die sich auch artikulieren können.” Die Fünf lassen sich nicht mit leeren Worten abspeisen und verlangen Taten. Die IRA soll die Verantwortlichen der Polizei ausliefern und aufhören, Zeugen zu bedrohen.
Die Zeitungen schreiben, „die Frauen haben ihren Beschützer verloren”. – Die fünf Schwestern und die Lebensgefährtin Robert McCartneys erklären der IRA den Krieg und suchen Hilfe im Ausland.
Sie treffen den amerikanischen Konsul, der ihnen seine Unterstützung zusichert. Die Premierminister Englands und Irlands nützen die McCartney-Affäre nach Kräften aus, um den Druck auf Sinn Fein und die IRA zu erhöhen. „Es ist Zeit, den kriminellen Aktivitäten der IRA ein Ende zu setzen.”
Phase 3 – Distanzieren: Wir lassen ein paar unserer Leute im Regen stehen. Ein zweites Treffen zwischen IRA und den Schwestern resultiert in einer öffentlichen Erklärung der Organisation, drei der in den Mord Verwickelten seien IRA-Mitglieder. Diese hätten aber als Individuen gehandelt, nicht im Auftrag der IRA, und werden daher vor das Heeresgericht gebracht. Sie bieten an, zwei der an der Tat beteiligten IRA-Männer zu erschießen. Zusätzlich geben sie den McCartneys die Namen von sieben Sinn Fein-Mitgliedern, die in der Mordnacht ebenfalls im Pub waren.
Die Schwestern lassen sich nicht mit der üblichen „internen Lösung” vom Tisch wischen und verlangen „Gerechtigkeit, nicht Rache” und einen ordentlichen Gerichtsprozess für die Mörder sowie alle, die an der Vertuschung beteiligt waren. Die Namen der sieben Sinn-Fein-Mitglieder lassen sie Gerry Adams zukommen, der diese umgehend aus der Partei ausschließt. Er verlangt von allen Parteimitgliedern, die in jener Nacht im Pub waren, eine Aussage zu machen. Auch er hält sich an Phase 3 – Distanzierung von den Tätern.
Mitte März, sechs Wochen nach dem Mord, melden sich zwei junge Sinn Fein Parteimitglieder. Sie wären in jener Nacht in der Bar gewesen, hätten aber nichts gesehen. „Egal was du sagst, sage nichts” gilt auch für Sinn Fein. 
Die Schwestern rasen. „Das stinkt nach Verschwörung.” Sie verdächtigen nun die gesamte Partei, an der Vertuschung erheblich beteiligt zu sein. „Das ganze Pub muss voll von denen gewesen sein.”
Die konstanten Anrufe und Besuche durch Gerry Adams reißen abrupt ab.
Wendepunkt: Die öffentliche Demütigung. Die fünf Schwestern fliegen gemeinsam mit der Lebensgefährtin ihres toten Bruders zum irischen Nationalfeiertag nach Washington. Belfasts „Famous Five” wollen Amerika klarmachen, dass die Zeit der heldenhaften Freiheitskämpfer vorbei ist. „Heute haben wir es mit kriminellen Gangs zu tun, die das romantische Image der IRA benutzen, um Menschen auf offener Straße zu ermorden und sich dann ungestraft davonzumachen.”
Die amerikanischen Medien sind begeistert von der rührenden Geschichte der Heldinnen. Die Öffentlichkeit – bisher finanzkräftiger Unterstützer der republikanischen Sache in Irland – droht sich gegen die IRA zu wenden.
Und Gerry Adams, der seit Jahren zum St. Patrick’s Day Dinner im Weißen Haus eingeladen war, muss dieses Jahr abseits des Medienglitzers den Nationalfeiertag begehen. G. W. Bush, Ted Kennedy und Hillary Clinton, allesamt langjährige Unterstützer des Sinn-Fein-Präsidenten, wollen dieses Jahr nichts mit ihm zu tun haben. Stattdessen zeigen sie sich mit den fünf Schwestern vor den Kameras. Spekulationen über den Einfluss der Affäre auf Sinn Feins Wahlerfolg im Mai werden laut.
Höchste Zeit für Phase 4 – Einschüchtern. Martin McGuinness warnt die Schwestern in einer Pressekonferenz in Belfast vor einer Verwicklung in die Parteipolitik. „Wenn sie weiterhin Sinn Fein direkt herausfordern und kritisieren, werden sie schrecklich viele Leute verärgern.” Und einen Tag später: „Das sollte keine Warnung für die McCartney-Familie sein. Nur ein freundschaftlicher Ratschlag.”
Eine grimmige Catherine antwortet vor dem Weißen Haus: „Es ist uns bewusst, dass uns verschiedene Gruppen – Sinn Fein eingeschlossen – für ihre Interessen benutzen wollen. Aber wir können sehr gut für uns selbst sprechen. Irgendwer da draußen glaubt, dass jemand hinter uns steht und die Fäden zieht. Aber wir sind keine dummen Frauen. Der einzige Mann, der hinter dieser Sache steht, ist unser (toter) Bruder.”
Der nächste Weg führt die Schwestern zu Tony Blair, dann ins Europäische Parlament. „Wir wollen Gerechtigkeit für unseren Robert. Davon lassen wir uns nicht mehr ablenken.” Dass sie ganz nebenbei die politische Landschaft Nordirlands so durchschütteln, dass manchen Herren schwindlig wird, ist ihnen ziemlich schnurz.